Vom Aufbau der Vielfalt
Ein Wissenschaftler wollte wissen, aus was die Vielfalt besteht. Er vermutete, dass es Grundbausteine geben muss, aus denen diese Welt der zehntausend Dinge aufgebaut ist. Also aus einer Riesenzahl von Elementarteilchen. So begann er zu suchen.
Er fand ein erstes, dann ein zweites, dann ein drittes Teilchen. Doch liess sich damit die Vielfalt nicht abbilden. Es fehlte immer noch etwas. Er postulierte jeweils ein zusätzliches Teilchen, das die beobachteten Unterschiede zwischen Theorie und Praxis erklären würde. So fand er ein viertes Teilchen, ein Fünftes, doch immer wieder blieb eine Lücke, fehlte noch ein Baustein für die Konstruktion der Vielfalt. Er suchte weiter, fand Nummer sechs und sieben und acht. Immer nach demselben Verfahren. Und tatsächlich, sowie er nach einem weiteren Teilchen suchte, das seiner Vorstellung entsprach, fand er es auch. Aber selbst Nummer neun und zehn schlossen nicht alle Lücken und so legte er seine Kreide weg und sagte lakonisch:
„Da kann etwas nicht stimmen. Die Natur kann nicht so kompliziert sein.“
Nachtrag
Diese Geschichte basiert auf einer realen Begebenheit.
Burton Richter, Nobelpreis für Physik 1976, hielt im Herbst desselben Jahres an der Stanford-University einen öffentlichen Vortrag über Elementarteilchenphysik. Ich ging hin, weil ich von dieser Materie nichts verstand und hoffte, dass dieser Mann aufgrund seiner Kompetenz verständlich reden würde.
Er begann mit den ersten bekannten Teilchen und zeigte, wie man die nächsten Teilchen fand. Nämlich folgendermassen: Man beobachtete die bereits gefundenen Teilchen, stellte Abweichungen zwischen deren theoretischen und realen Erscheinungsbild fest, postulierte dann ein weiteres Teilchen, das die beobachteten Abweichung erklären würde, suchte an der entsprechenden Stelle, fand es auch, stellte dann aber weitere, wenn auch kleinere Abweichungen zwischen Theorie und Wirklichkeit fest, postulierte ein weiteres Teilchen, fand es auch, usw. (Auf diese Art und Weise wurden übrigens auch die Planeten Neptun und Pluto entdeckt.)
Richter schrieb solchermassen eine Liste der gefundenen Elementarteilchen an die Tafel. Als er bei 10 Teilchen ankam, legte er die Kreide weg und hielt inne. Er betrachtete die Liste eine ganze Weile und sagte dann: „Something must be wrong. Nature can not be so complicated.“
Damit stimmt Richter mit altem Wissen um Ursymbolsysteme (Archetypensysteme) überein, die alle aus einer ganz kleinen Anzahl Grundbausteine bestehen. So verdeutlichte er, dass die Natur im Grund der Dinge sehr einfach sein muss und wir die Tendenz haben, sie zu verkomplizieren.
Das Prinzip der Ursymbolsysteme lässt sich gut anhand des Legospiels erläutern. Es gibt im ursprünglichen Lego nur eine sehr begrenzte Anzahl Bausteintypen, aber von jedem Typ beliebig viele. So kann die ganze Vielfalt der Welt gebaut werden. Immer aus gleichen Grundbausteinen, aber in vielfältiger Zusammensetzung.
Ein anderes, viel verwendetes Ursymbolsystem findet sich übrigens in der Astrologie: Mit 12 Zeichen lassen sich da sämtliche individuellen Seelenbilder darstellen.